Der Gefangene steht in der Zellentür, im Hintergrund die neugierigen Gesichter der Mithäftlinge. Ich schaue auf den Antrag. „Bitte um ein Gespräch mit dem Pfarrer wegen familiärer Probleme“, steht da.
„Um welche Probleme handelt es sich?“ Wir sitzen mittlerweile in einem Gesprächsraum, von denen es auf jedem Haftflur zwei gibt, mit Glaswand, aus Sicherheitsgründen von außen einsehbar, aber immerhin schalldicht, zumindest also geeignet für ein seelsorgerliches Sondierungsgespräch.
„Die Sache ist die, ich bin seit vier Wochen verhaftet, und von meiner Familie war noch keiner zu Besuch.“
Ich nicke. Aus vielen Gesprächen weiß ich, wie weh es tut, wenn von heute auf morgen sämtliche persönliche Beziehungen abgehackt werden, alle Kontakte zur Außenwelt unterbunden. Sorge, wie es den Kindern geht, den Eltern, den Ehefrauen. Angst, hier drinnen vergessen zu werden.
„Die wissen vielleicht gar nicht, wo ich bin.“
„Aber Sie haben doch ein Telefonat führen dürfen, um ihre Angehörigen zu informieren.“
„Trotzdem, Herr Pfarrer, die haben noch kein Geld auf mein Konto eingezahlt.“
Ich blicke ernst drein, doch innerlich muss ich schmunzeln. Ich weiß nun, worauf das Gespräch hinauslaufen wird. Bargeld ist im Gefängnis verboten. Doch jeder Gefangene hat ein Konto, über das er seine Ausgaben für den begehrten zwei-wöchentlichen Einkauf buchen kann - wenn denn durch Arbeit oder Überweisungen von außerhalb ein entsprechender Kontostand zu verzeichnen ist.
„Was kann ich denn für Sie tun?“
„Ich dachte ... vielleicht ... ich kann ja am Einkauf übermorgen nicht teilnehmen, weil meine Mutter noch kein Geld geschickt hat. Und da dachte ich, vielleicht können Sie mir mit einem Päckchen Tabak aushelfen...“
Gefängnis heißt Mangel. Mangel an Bewegungsfreiheit. Einschränkung der Lebensmöglichkeiten. Mangel an Kontakt mit Menschen, die man sich aussuchen kann. Nach allem wird der Pfarrer gefragt. Aber am allermeisten nach Tabak.
„Tut mir leid“, sage ich, „Tabak kann ich Ihnen nicht geben.“
„Aber Sie sind doch Seelsorger.“
„Seelsorger schon“, sage ich, „aber nicht Versorger. Ich bin gerne für Sie da, wenn Sie sich Sorgen machen, weil ihr Vater in die Klinik muss. Weil Ihr Bruder seinen Job verloren hat, oder Ihre Freundin seit ein paar Wochen nicht geschrieben hat. Sie können von mir vieles bekommen. Nur Tabak habe ich für Sie keinen.“
Ich sehe sein enttäuschtes Gesicht und wäre gerne weniger hart. Doch ich weiß: Ich bin dazu da, diesen jungen Mann durch eine Krise zu begleiten und nicht dazu, ihm diese Krise durch die vorschnelle Befriedigung eines vermeintlichen Bedürfnisses zu ersparen. Er hätte einen Grund weniger, sich um sich selbst Gedanken zu machen und käme wieder nicht weiter. Mit sich selbst nicht. Nicht mit seiner Tat und den Umständen, die dazu geführt haben. Und mit Gott wahrscheinlich auch nicht.
Wie wir unseren Dienst als Seelsorger im Gefängnis sehen
Gefangene als Menschen sehen, nicht nur als Täter, schon gar nicht als Monster.
Und sie begleiten vom Evangelium Jesu Christi her, im Auftrag und mit dem Rückhalt unserer Kirchen.
Einen Blick haben für die Ausgegrenzten, die Schwierigen, die Gescheiterten, die Wohlstandsverlierer.
Gefangene besuchen und begleiten.
Zeit haben, ein Herz und ein Ohr – wenn es geht, ein Wort, eine Geste.
Einfach da sein in Freude und Leid.
Dem Anderen Raum geben und Ansehen.
Menschen, die nicht selten sich selbst und auch uns als Gesellschaft abhanden gekommen sind, entstellt und entglitten in manchmal schier unglaublichen Taten.
Den Menschen sehen mit seiner Not, seinen Verletzungen, seiner Geschichte.
Mich berühren lassen vom manchmal fremden, dunklen, unheimlichen Gegenüber.
Aushalten und ausharren am Rand seiner Abgründe.
Und doch spüren, was uns als Menschen verbindet.
Ihn als Person anerkennen, seine Würde und seinen Wert.
Mehr sehen und hören als im Urteil steht und in der Akte.
Einspruch erheben, wo ein Mensch unter die Räder gerät in Sachzwängen,
Zuständigkeiten und Paragraphen, manchmal auch Willkür.
Brücken bauen; über Mauern hinweg Menschen zusammen bringen.
Dialog und – wo möglich - Versöhnung fördern.
Helfen, Zerbrochenes zu heilen.
Mut machen, neue Anfänge zu wagen.
Unser Leben vor Gott bringen.
Klagen. Zweifeln und Bangen.
Wünschen. Hoffen. Und danken.
Und – öfter als für möglich gehalten – mich selbst und den anderen
mit mehr Leben beschenken lassen.